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PRAXIS
Jean-Pierre Sterck-Degueldre
Raus aus der Weihnachtsidylle – die Maria des Magnifikats
Eine weihnachtliche Krippenidylle lenkt den Blick auf eine demütige Maria als Mutter Jesu. Das lukanische Rollenskript zeichnet hingegen das Bild einer selbstsicheren Frau, die prophetisch- sozialen Sprengstoff verkündet. Entdeckungen mithilfe der filmhermeneutischen Bibeldidaktik.
Lichter, Lieder, Krippen und Geschenke – weihnachtliches Brauchtum bleibt auch in einer von Traditionsabbruch und Säkularisierung geprägten Spätmoderne präsent. Kinder und Jugendliche begegnen diesem Traditionsgut z. T. im Rahmen religiöser Bildung, in kulturellen und vor allem in kommerziellen Kontexten. So gehören auch die Erzählungen von der Geburt Jesu zu den noch relativ gut bekannten neutestamentlichen Überlieferungen. Die lukanischen (Lk 1–2) und matthäischen (Mt 1–2) Narrationen sowie einige Erzählmotive aus apokryphen Evangelien sind im kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft verwurzelt, oft synchronisierend miteinander verwoben: alle Jahre wieder in Krippenspielen und – darstellungen inszeniert, mitunter auch aktualisiert. Oft können Schüler*innen solche Erzähltraditionen und ihre Elemente rekonstruieren, ohne dass ihnen bewusst ist, dass sich im Neuen Testament zwei sehr unterschiedliche Kindheitserzählungen Jesu finden. Die Strapazen der Reise nach Bethlehem, die verzweifelte Herbergssuche Josefs mit der hochschwangeren Maria, die Weisungen der Sterndeuter, die heimtückischen Machenschaften des Herodes usw. werden erzählerisch verknüpft – Spannung wird aufgebaut! Doch: Ende gut, alles gut. So endet auch diese Story (zumindest vorübergehend) mit einem Happy End. Der Heiland wird geboren! Dabei geht leider allzu oft die soziale (s. z. B. das Hirten-Motiv, das Magnifikat bei Lukas) sowie die interkulturelle (s. z. B. die Magoi/Sterndeuter bei Matthäus) Brisanz der neutestamentlichen Erzählungen verloren.

Die narrative Einbettung: keineswegs nur eine Nebenrolle

Schüler*innen lernen, die biblischen Erzählungen als literarische Narrationen neu zu lesen: Sie entdecken die kunstvolle Komposition und Eintaudie traditionsreiche Motivik. Als aussagekräftige Anfangserzählungen, die das Wesen und die Besonderheit Jesu gleich zu Beginn ausweisen, greifen die matthäische (Mt 1,18–2,23) und die lukanische (Lk 1,5–2,52) Geburtserzählungen auf bekannte (literarische) Muster und Motive zurück. Im Rahmen der alttestamentlich-jüdischen Messiaserwartung werden prophetische Verheißungen aufgegriffen und wie in der römisch- griechischen Kultur bereits in der Kindheit programmatisch die spätere Bedeutung des Helden inszeniert.

Die Bedeutung des Helden wird literarisch inszeniert.

Es ist nicht zielführend, die Erzählungen auf dem Hintergrund moderner biologischer Erkenntnisse (Empfängnis) oder astronomischen Wissens (Stern) zu lesen. Die Kindheitserzählungen sind Literatur und wollen als solche ernst genommen werden! Mit dem Magnifikat (Lk 1,46–56) entdecken die Schüler*innen nun ein Glanzstück lukanischer Erzählkunst: Die Begegnung Marias mit Elisabeth mündet in ein Loblied auf Gott, eigentlich ein prophetisch-politischer »Protestsong «, der es wirklich in sich hat. Jesu Geburt erhält eine heilsentscheidende Tragweite (Lk 1,54 f.).

Das Magnifikat hebt die radikale Umkehrung sozialer Verhältnisse poetisch ins Wort.

Das impliziert die radikale Umkehrung sozialer Verhältnisse, indem Gott die Machthaber stürzt und den Erniedrigten Recht zuteilwerden lässt (Lk 1,52–53). Unmissverständlich proklamiert Marias Lied die Parteinahme Gottes für die Unterdrückten und nimmt die Reich-Gottes-Botschaft Jesu vorweg, die im weiteren Verlauf der Schrift mit der Umkehrung der Maßstäbe und Jesu Hinwendung zu Marginalisierten eine thematische Leitlinie des Lukas darstellt. In den Versen 46– 56 lässt Lukas Maria ihre längste wörtliche Rede im Neuen Testament sprechen. Im Lied folgen die zentralen Motive Erniedrigung, Sehen, Erbarmen und Handeln Gottes aufeinander, wie sie schon in der Exodus-Erzählung überliefert sind. Inspiriert von der Exodus-Theologie hat Lukas die Unterdrückung des jüdischen Volkes unter römischer Herrschaft vor Augen und bindet die Jüdin Maria literarisch in die Geschichte ihres Volkes ein. Schon ihr Vorname Mirjam erinnert an die Schwester des Moses, die im Alten Testament als erste Frau explizit als Prophetin bezeichnet wird und Gott für die Errettung vor der ägyptischen Verfolgung dankt (Ex 15,20 f.). Lukas stellt Maria hier ganz bewusst auch in die Linie anderer geistbegabter, prophetisch redender Frauen (vgl. Debora Ri 4 f.; Hanna 1 Sam 1 f.). Zudem spielt das Magnifikat an die sogenannten »Siegeslieder« dieser weiblichen Erzählfiguren aus dem Alten Testament an. Neben einer Kritik an der römischen Herrschaft (z. B. Jesuskind mit Kyrios-Titel als »Anti-Kaiser« zu Augustus in Lk 2,11) möchte Lukas in seiner »Vorgeschichte« auch die Kontinuität mit jüdischer Tradition betonen, so z. B. durch das Einbinden prophetischer Redeformen, hier im Munde der Maria. Alles andere als nur eine Nebenrolle!

Maria inszeniert: bibeldidaktische Zugänge

Eine gelungene Bibeldidaktik setzt solides, diachrones Wissen u. a. um die Entstehung und gattungskritische Zuordnung sowie ein synchrones Eintauchen in die narrative Entfaltung biblischer Überlieferungen voraus. Aus diachroner Perspektive etwa die Fragen: Was sind z. B. Form, Gattung, Sitz im Leben und die ursprüngliche mögliche Intention der Erzählung? Und aus synchroner Perspektive: Wie wird erzählt? Was ist die Dramaturgie? Welche sind die Aktanten? Welches ist das Szenario, die Intrige? Nur mit solchen und ähnlichen Fragen können die biblischen Texte mit Blick auf die Lebenswelt der Schüler*innen didaktisch verantwortungsvoll korreliert werden. Dabei sollen historisch-kritische Fragen z. B. zu Form, Gattung, Intention helfen, Voreinstellungen ggf. zu dekonstruieren. Es gilt, die Kindheitserzählungen als literarische Konstruktionen zu entdecken, die kaum als historische Tatsachenberichte, sondern vielmehr als poetische Bekenntnisse zu lesen sind. Ein Eintauchen in die Narration dient idealerweise der Identifikation mit den Erzählfiguren, dem Einfühlen in die Handlungen. Korrelation mit der eigenen Lebenswelt wird u. a. durch die Gestaltung von kreativen Produkten durch die Lernenden angebahnt.

Hier setzt die filmhermeneutische Bibeldidaktik an, indem sie von folgender Feststellung ausgeht: Wie ein Film sind auch biblische Erzählungen inszeniert. Die Dialoge, die suggerierten Bilder und konstruierten Szenen sind wohldurchdacht. Den Aktanten, die sicherlich historisch verbürgt sind, legen die Evangelisten mitunter Worte, Repliken in Streitgesprächen, Statements, Vorträge oder gar – wie hier – Songs in den Mund. Das erinnert doch sehr an moderne bio-epische Verfilmungen der Leben großer Persönlichkeiten (s. z. B. »Bohemian Rhapsody« zum Leben von Freddy Mercury, »Rocket Man« zum Leben von Elton John). Auch Filmemacher*innen recherchieren gründlich, selektieren das Material, entwickeln u. a. durch Kameraführung und Schnitt eigene Akzente, lassen die Schauspieler*innen Texte sprechen, die die historischen Personen so nie gesprochen haben. Die Filmproduzent*innen als auch die Schreiber*innen des NT wollen ihre Zuschauer*innen bzw. Leser*innen beispielsweise instruieren, zum Überlegen anregen und zugleich unterhalten. Die unterhaltende Funktion von neutestamentlichem Erzählgut in den frühen Gemeinden wird jedoch bislang meist verkannt. Wie mag wohl der Protestsong Marias in den Ohren der Zuhörer* innen und Leser*innen im ersten Jahrhundert nach einem verlorenen Krieg der Juden gegen Rom (66–70 n. Chr.) geklungen haben? Anregend, instruktiv und wahrscheinlich unterhaltsam: Die Unterdrücker sollen gestürzt werden – na denn!

Methoden und Konkretisierungen

Eine Gedanken-Stopp-Lektüre kann eine erste Textbegegnung begleiten: Schüler*innen markieren und benennen, wo sie bei der Lektüre stolpern, und formulieren ihre Fragen. Indem diese Fragen gesammelt und entsprechend der verschiedenen Ebenen der exegetischen Textbegegnung sortiert werden (diachron, synchron und rezeptionsästhetisch), werden die bibelhermeneutischen Kompetenzen der Schüler* innen geschult: Sie werden sensibilisiert für unterschiedliche Zugänge, reflektieren ihre eigenen Fragehaltungen und lernen diese zu differenzieren. Der Blick mit der Kamera nimmt den Grundgedanken der filmhermeneutischen Bibeldidaktik, dass biblische Texte in ihrer Inszenierung den Blick der Leser*innen ähnlich wie Kameraleute im Film lenken, auf: Mithilfe von konkretem filmanalytischem Vokabular entdecken und beschreiben die Schüler*innen, wie Lukas im Magnifikat die Botschaft Marias inszeniert.

Die Schüler*innen entdecken die narrative Dramaturgie des Magnifikats

Diese Methode ermöglicht den Schüler*innen, in den Text einzutauchen, die innere Dramaturgie zu erspüren, sich mit den Handelnden zu identifizieren und so manch ungeahnte Details wahrzunehmen. Nicht selten stellen vereinzelt Lernende fest, der biblische Text sei so etwas wie ein Film in nuce, also eine Inszenierung. In der Gestaltung eines Storyboards lassen sich diese Erkenntnisse vertiefen, indem über die Kameraperspektiven hinausgehende Inszenierungselemente identifiziert und gestaltet werden – etwa durch den Einsatz von Special Effects – und sich die Wahrnehmung des biblischen Textes als literarisches Kunstwerk festigt. In der Vertonung durch einen Audio-Podcast werden weitere bereits im biblischen Text angelegte Gestaltungselemente aufgegriffen und in der eigenen kreativen Umsetzung selbst genutzt. Dieses Vorgehen schärft den Blick für die Gestaltungsmittel, die der Text selbst als literarischer nutzt. Ein weiterer Schritt, der diese Impulse vertieft, kann etwa auch die Gestaltung eines (Musik-) Videos zum Protestsong sein. Wem eine kreative Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Liedes in Lk 1,46–56 nicht genügt, kann die Schüler* innen ein Erklär- bzw. Making-of-Video gestalten lassen, das die eingangs formulierten exegetischen Erläuterungen, etwa zu aufgegriffenen Motiven, anschaulich präsentiert. Coming soon – Wie geht die Story weiter? Was programmatisch über Jesus in seiner Kindheitserzählung gesagt und Maria in den Mund gelegt wird, wird Jesus (als Messias) in seinem öffentlichen Leben einlösen müssen: Was ist von einem solchen Jesus im erwachsenen Alter zu erwarten? Schüler*innen suchen gemeinsam mit der Lehrperson im NT nach entsprechenden Erzählungen (Gleichnisse, Wundererzählungen, z. B. Mk 5,1–20, Programmation in Lk 4,16–22). Besonders kreative Schüler*innen erfinden neue Drehbücher – Jesus-Erzählungen, die zeigen, wie Jesus als Erwachsener die Ankündigungen als prophetischer Messias umsetzt.

Schüler*innen gestalten kreativ sehr unterschiedliche Produkte: Brücken zwischen ihrer Lebenswelt und der Welt der Bibel.

Ein Bio-Epos zu Maria lässt sich in Form eines Filmtrailers entwerfen: Lukas platziert Maria, die Mutter Jesu, an zentrale Schnittstellen seines Doppelwerkes, hierbei in ausgedehnter Weise in der Kindheitserzählung. Der Entwurf solch eines Bio-Epos kann mit einem Casting beginnen, in dem die Rolle der Maria besetzt und gestaltet wird.

Methoden und Zugänge der filmhermeneutischen Bibeldidaktik greifen auf Kompetenzen Jugendlicher zurück, die sie mit groβer Selbstverständlichkeit aus ihrem alltäglichen Umgang mit Filmen aller Art mitbringen. Nicht nur als Konsument*innen, sondern auch als Produzent*innen sind sie mit (dem) Filmen vertraut: Mit diesem Repertoire gelingt sowohl der fundierte synchrone Blick in die Narrationen biblischer Texte als auch die kreative Aufarbeitung diachronen Sachwissens zur Entstehung und Verortung biblischer Texte. Der Regie des Magnifikats mit seinen spektakulären Bildern und eindrücklichen Zitaten zu folgen, den Blick hinter die Kulissen zu richten und dem Making-of nachzugehen sowie über aktualisierende Neuinszenierungen seiner Botschaft nachzudenken, lässt Maria neu entdecken: Maria reloaded!



Literatur
Bovon, François, Das Evangelium nach Lukas. 1. Teilband Lukas 1,1–9,50, Neukirchen-Vluyn/Düsseldorf 1989.
Sterck-Degueldre, Jean-Pierre, »Ich sehe etwas, was du nicht siehst«. Filmhermeneutische Bibeldidaktik, Konzept und Impulse für die Praxis, in: Lüke, Ulrich/Peters, Hildegard (Hg.), Wissenschaft, Wahrheit, Weisheit, Freiburg 2018, S. 175–210.
Wolter, Michael, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008.

Arbeitsblätter zu den besprochenen Methoden:
Heike Harbecke/Jean-Pierre Sterck-Degueldre, Heiliger Geist – beflügelt. Dreieinigkeit 3/3, »:in Religion« 7/2017, Bergmoser&Höller, Aachen 2017, S. 21–23.
Heike Harbecke/Jean-Pierre Sterck-Degueldre, Lernen mit der Bibel, »:in Religion« 6/2021, Bergmoser & Höller, Aachen 2021, S. 8.17–18.
Heike Harbecke/Jean-Pierre Sterck-Degueldre, Osterdetektive, »:in Religion« 1/2023, Bergmoser & Höller, Aachen 2023, S. 7–11.

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