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Ansgar Franz |
»Doch der Gesang behält recht« – ein theologisches Lob des Singens |
Wer singt, legen humanwissenschaftliche Studien nahe, lebt länger und gesünder, fördert das eigene Sprachvermögen und Sozialverhalten. Die Hymnologie, die Wissenschaft vom geistlichen Singen, schätzt den Gesang als Einübung in die Sprache des Glaubens, als Hilfe zur Deutung der eigenen Existenz und als eine die Gegenwart verändernde Kraft. |
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In den Bildungsdebatten der vergangenen Jahre wurde an vielen Stellen eine Stärkung der Singfähigkeit Heranwachsender angemahnt. Flankiert wurden diese Forderungen durch humanwissenschaftliche Studien aus ganz verschiedenen Bereichen. Eine amerikanische Forschergruppe um Anthony Brandt fand heraus, dass entwicklungsgeschichtlich Singen älter ist als Sprechen. Kleinkinder spielen zunächst mit Tönen, Klangfarben, Rhythmen und melodischen Konturen, bevor sie auf dieser Grundlage die semantischen und syntaktischen Aspekte einer Sprache erfassen. Michael Tomasello und Sebastian Kirschner vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie konnten bei Vierjährigen verschiedener Kindergartengruppen nachweisen, dass gemeinsames Singen die sozio-emotionale Kompetenz fördert.
Gemeindegesang ist geistliche Übung derjenigen, die gemeinsam unterwegs sind zum Land der Verheißung.
Kinder, die gemeinsam sangen, kooperierten und unterstützten sich auffällig häufiger als die Mitglieder einer Vergleichsgruppe, in der nicht gesungen wurde. Ein Forscherteam um die Mikrobiologin Elizabeth Blackburne, die 2009 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde, hat entdeckt, dass die Länge der Telomere, einer Art Schutzkappen um die Chromosomen, unmittelbar mit der Zellalterung und der Entstehung von Krankheiten verknüpft ist. Regelmäßiges (meditatives) Singen, so legen weiterführende Forschungen nahe, stärke die Telomere, fördere damit die Gesundheit und könne den Alterungsprozess verlangsamen. – Die Hymnologie sieht im Singen auch aus theologischen Gründen ein wichtiges Medium religiöser Bildung. Im Folgenden sollen einige Aspekte zusammengetragen werden, wobei der Fokus auf die Gattung »Kirchenlied« gelegt wird, die eine Besonderheit des Christentums im Chor der Religionen darstellt.
Spiritueller Reiseproviant
Nimmt man den Begriff »Bildung« beim Wort und fragt nach seinem ursprünglichen Sinn, so wird man durch die einschlägigen Lexika auf die Bedeutung »gestalten«, »Form geben«, »einprägen« verwiesen; »bilden« hat etwas mit »üben«, »wiederholt tun« gemeinsam. Versteht man religiöse Bildung nicht allein und nicht in erster Linie als Wissensvermittlung, sondern als Formung, als Einüben in eine lebenslange Beziehung, dann ist das Kirchenlied sicherlich ein wichtiges Medium religiöser Bildung. Tatsächlich gehören Kirchenlieder zu den (heute leider nur noch wenigen) geistlichen Texten, die Christen und Christinnen sich einprägen, die sie par coeur, auswendig, behalten. Kirchenlieder können zu überlebenswichtigen Rationen jenes spirituellen Reiseproviants werden, von denen man, wie die Schrift weiß, in geistlichen Hungerperioden zehrt (Am 8,11) und an denen man sich in Festzeiten berauscht (Eph 5,18). Kirchenlieder können ›nahrhaft‹ sein, ›geist-reich‹ im biblischen Sinn. Es gibt eine Fülle von Zeugnissen darüber, wie par coeur sich zu eigen gemachte Kirchenlieder in bedrückenden Situationen des Lebens aufrichten und Halt geben können, angefangen bei Augustinus, der beim Tod seiner Mutter Trost findet in den Hymnen des Ambrosius, bis hin zu Dietrich Bonhoeffer, der in der Gestapo-Haft die Lieder von Paul Gerhardt memoriert. Die mit der Begleitung Sterbender Erfahrenen berichten davon, welche Bedeutung an der Schwelle zum Tod die vertrauten Kirchenlieder der Kindheit haben – an nahrhaften Kirchenliedern kann man lange zehren, günstigstenfalls ein Leben lang. Die oft erhobene Forderung, die Singenden sollten jeweils mit ihrem Lied ›identisch‹ sein, nur das singen, was sie gerade fühlen und glauben, übersieht, dass es auch eine »Rezeption auf Vorrat« geben muss: »Es kann geschehen, dass ein längst bekannter, aber inhaltlich zunächst fremd gebliebener Liedvers plötzlich zu sprechen beginnt. Damit meine ich ausdrücklich nicht die plötzliche Erkenntnis dessen, was der Autor vielleicht gemeint haben könnte, sondern ein Zu-Wort- Kommen meiner existenziellen Situation in den vorgegebenen Worten, die damit die Rolle einer Formulierungshilfe oder gar eines Schlüssels bekommen« (Marti 161).
»Zu Gast in fremden Zelten«
Das Lied entsteht erst durch die Stimme des Singenden, gleichwohl bleibt es von der Person des Singenden unterscheidbar, bleibt es das Fremde. Das Lied ist das Vorgegebene, das nicht die individuelle, aus der Situation heraus entstehende Äußerung der Singenden ist. Und weil jedes gute Kirchenlied immer die Wirklichkeit des Menschen und die Botschaft der Bibel miteinander in Beziehung setzt, Welterfahrung aus der Perspektive der Heiligen Schrift deutet, tritt den Singenden in dem fremden Lied eine Tradition von Glaubenszeugnissen entgegen, die sie sich zu eigen machen können oder eben auch nicht. [...]
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