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REFLEXION
Christine Freitag
Denk-Wege zu einer religionssensiblen Schulkultur: erziehungswissenschaftliche Perspektiven
»Wir leben das Fach. Wir leben Religion.« Diese Aussage einer Schulleiterin dokumentiert ein religionsbezogenes Schulverständnis. Was bedeutet das für die Schulgemeinschaft? Analyse und Kritik aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive.
Wir hatten die hier zitierte Schulleiterin einer Schule des Sekundarbereichs I, die zugleich Religionslehrerin ist, im Rahmen eines empirischen Forschungsprojekts nach der Bedeutung von Religion im Schulalltag gefragt. Sie setzte in ihrer Antwort Religion mit dem Unterrichtsfach Religion gleich. Und sie verwies zugleich darauf, dass die Impulse für das religiös geprägte Schulleben von eben diesem Fach und seinen Lehrkräften ausgingen (vgl. Freitag/Tegeler/ Bohnhorst 212). Bis heute verwirrt mich diese Aussage, weil die Gleichsetzung eines Faches mit dem Gepräge einer ganzen Schule ein für mich ungewöhnlicher Gedanke ist. »Wir leben das Fach. Wir leben Chemie.« – das hätte argumentativ nicht funktioniert. Das bedeutet doch wohl, dass dem Fach Religion im vorgestellten Beispiel eine inhaltliche Bedeutung beigemessen wird, die weit über jede curriculare Fachlichkeit hinausgeht und Leben zu prägen vermag. Wenn das die Schulgemeinschaft beschreibende »Wir« durch die Inhalte und Maßstäbe bestimmt wird, die in einem Fach gesetzt werden und die das Leben der gesamten Schulgemeinschaft prägen sollen, ist dieses Wir dann ein konsensuelles Wir? Zumindest aus der Sicht der Interviewten scheint der christliche Konsens für eine gesamte Schule als Leitmotiv zu funktionieren. Es werden damit Normen gesetzt, durch die sich die Spezifität der Schule zeigen soll. Ganz im Sinne einer profilbildenden Schulkultur wird argumentiert, dem gemeinsamen »Leben des Faches Religion « sei eine positive Wirkung zu unterstellen. Als Indikatoren werden etwa die enge Kooperation mit der örtlichen Pfarrgemeinde und Projektwochen zum Globalen Lernen genannt (vgl. Freitag/Tegeler/Bohnhorst 211).

Ein Religionslehrer derselben Schule formulierte den aus seiner Sicht herrschenden Konsens folgendermaßen: »Ich sag’ jedem Schüler, egal welcher Konfession, wir leben hier christlich. Das ist unsere Gesellschaft, […] so sollten wir alle leben« (ebd.). Wie schon früher von Karakaşoǧlu und Riegel gezeigt, wird religiöse Zugehörigkeit aus der Sicht von Lehrkräften häufig als eine Art ›Wertepool‹ klassifiziert (vgl. Freitag/Tegeler/Bohnhorst). Damit allerdings erfolgt zugleich eine Abgrenzung des Christlichen vom Nichtchristlichen, die im hier dargestellten Fall jedoch durch eine auf christlichen Werten basierende Schulkultur für alle nivelliert wird.

Die Vielfalt religiöser Zugehörigkeiten oder Nicht-Zugehörigkeiten wird trotz einer hohen Religionssensibilität in einer homogenisierten Wahrnehmung von Religion unkenntlich gemacht.

Allerdings, so die weiteren Ergebnisse der Interviewstudie (vgl. auch Freitag/von Bargen), wird der christlich definierte Wertepool in den Interviews mit Lehrkräften nordrhein-westfälischer Schulen durchaus auch zur Kontrastfolie, und zwar insbesondere dann, wenn Schüler*innen beziehungsweise deren Eltern in Haltung und Verhalten als von diesem Wertepool abweichend und in verschiedener Hinsicht als provokant wahrgenommen werden. Karakaşoǧlu stellt die Wahrnehmung der Konfliktparteien etwas anders dar. Nach ihren Befunden zeigt sich der Konflikt vor allem zwischen Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen, explizit zwischen orthodoxen muslimischen Positionierungen und säkularen (in unserer Studie – wohl aufgrund der Fokussierung auf Religion – überwiegend als »christlich« dargestellten) Sichtweisen, welche die Lehrkräfte sich kontrastiv selbst zuschreiben.

Aus erwünschter Homogenität wird so konfliktbeladene Heterogenität, die seitens der Lehrkräfte religiös, zugleich aber auch nationalstaatlich konnotiert wird. ›Deutsch‹ ist ›christlich‹ (oder ›säkular‹), ›türkisch‹ ist ›muslimisch‹. Und so wird kulturelle Vielfalt, wenn sie mit Religion und deren Wertezuschreibungen zusammengedacht wird, zum Ärgernis. Je nach Perspektive geht damit eine Abwertung des Islams einher – entweder als vom christlichen Grundkonsens abweichend oder als religiös rückständig im Unterschied zum säkular Aufgeklärten.

Konsequenzen für das erziehungswissenschaftliche Nachdenken über eine religionssensible Schulkultur


In den bisherigen empirischen Befunden wurden bereits zwei Argumentationsstränge von Lehrkräften deutlich, die in der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung von Religion im Schulalltag bemüht werden. Der eine ist, den »religiösen Mehrwert gegen den Säkularismus ins Feld« zu führen (Binder 1). Dem entspricht das anfangs vorgestellte Zitat »Wir leben Religion«. Der andere ist, Religion als rückständig und Säkularität damit als aufgeklärt und zeitgemäß darzustellen. Dem entsprechen die Abgrenzungen deutscher Lehrkräfte gegenüber dem Islam. In ihrer argumentativen Stoßrichtung sind beide Stränge geprägt vor allem von einer Distanzierung vom Islam, da dieser von einem konsensuell geteilten Wertepool abweiche. Dabei allerdings wird in der ersten Argumentation Religion (aber eben ›christliche Religion‹) hochgeschätzt, während islamische Religion in der anderen Argumentationslinie aufgeklärtem Denken insgesamt zu widerstreben scheint.

Eine religionssensible Schulkultur kann erziehungswissenschaftlich nur einen Sinn ergeben, wenn Religion als Leben prägende Tatsache verstanden wird, die allein aufgrund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung einen diskursiven Ort in der Schule haben muss (gesellschaftliche Legitimation). Oder aber es geht um eine gleichsam institutionelle Haltung, in der Religionssensibilität als eine Art Neugier verstanden wird, mit der zuallererst Lehrkräfte Schüler* innen und deren Familien begegnen, um herauszufinden, inwiefern religiöse Werte und Überzeugungen Teil dessen sind, was Leben und Haltungen prägt (pädagogische Legitimation). Beide Legitimationswege können »schulkulturrelevant « sein, sofern Schulkultur als qualitätsverbessernde Programmatik für die Entwicklung einer Schule verstanden wird (vgl. Freitag).

Ein schwerwiegendes Problem ergibt sich aber, wenn Religionssensibilität vor dem Hintergrund der oben dargestellten empirischen Befunde betrachtet wird. Dann nämlich reiht sie sich ein in die Befunde der interkulturellen Erziehungswissenschaft der letzten zwei bis drei Jahrzehnte, die eindrücklich belegen, dass die Schule als Institution nicht sensibel genug ist, um einer kulturellen Heterogenität diskriminierungs- und vorurteilsfrei zu begegnen (vgl. Gogolin; vgl. Gomolla/Radtke). Menschen nach religiöser Zugehörigkeit zu differenzieren, sie also einer spezifischen Kategorie zuzuordnen, die für bedeutsam gehalten wird, ist – analog zu kulturellen Fest- und Zuschreibungen – nicht automatisch förderlich. So haben wir in unserer Studie auch immer wieder Konfliktdarstellungen gefunden (insbesondere zum Thema der Geschlechterbilder und Geschlechterrollen), in denen die religiöse Zugehörigkeit zur Erklärung herangezogen wurde, um etwa Formen männlichen ›Fehlverhaltens‹ zu deuten (vgl. Freitag/von Bargen 50–54). Solche Befunde stärken den Eindruck, dass Religionssensibilität auch als Religionsübersensibilität erscheinen kann, dass also die Bedeutung der Religion im Schulalltag nicht zuallererst geprüft, sondern unterstellt wird.

Alternative Perspektivierungen


Ob sich solche Blicke verändern, wenn die kontextuellen Rahmungen ganz andere sind? Wir fragten Lehrkräfte im ›religionsneutralen‹ Schweden und wurden von so manchen Antworten überrascht. So wurde beispielsweise der auch in Deutschland häufig berichtete Konflikt um die Nichtteilnahme muslimischer Mädchen am Schwimmunterricht dargestellt, allerdings in einer anderen Perspektivierung. Während in den deutschen Darstellungen stets auf das Schulrecht und die Pflicht zur Unterrichtsteilnahme verwiesen wurde, hieß es in einem schwedischen Interview, die betroffenen Mädchen wollten nicht anders behandelt werden als ihre Mitschülerinnen, deshalb habe die Lehrerin ihnen – ohne weitere Rücksprache mit den Eltern – bei einem Schulausflug das Schwimmen beigebracht (vgl. Freitag/von Bargen 54f.). Insgesamt schienen in den schwedischen Interviews auf religiöse Überzeugungen zurückgeführte Konflikte weniger konfrontativ betrachtet zu werden, stattdessen eher als pädagogischer Appell. Und es gab auch deutlich selbstkritischere Einschätzungen: »I don’t think that the Muslims are the problem. We have a problem in understanding them« (ebd.). Dennoch bleibt hinsichtlich der Schulkultur die Anfrage, ob hier nicht ein eher konfliktvermeidendes Verhalten der Lehrkräfte vorliegt, das, in Hinblick auf die Kommunikation mit Eltern, nicht wertschätzend gegenüber deren Haltungen und Werten ist.

Die Nichtthematisierung von Religion lässt entsprechende Themen und Konflikte auch nicht einfach verschwinden.

Deutlich wird insgesamt, dass eine erziehungswissenschaftliche Annäherung an das Thema der religionssensiblen Schulkultur schwerfällt. Die Analogien zu Forschungsbefunden der interkulturellen Erziehungswissenschaft sind an vielen Stellen so eng, dass eine systematisch völlig anders gelagerte Betrachtung schwer möglich scheint. Letztlich ist es wohl die empirisch begründete Sorge, dass Religionssensibilität entweder zu stark von der christlichen Religion aus betrachtet wird oder – im Blick vor allem auf den Islam (in unseren Befunden allerdings auch immer wieder auf nicht den großen Kirchen zugehörige Christ*innen) – zu einer Dramatisierung religiöser Differenz führen könnte. Religionssensible Schulkultur bleibt dann zunächst der Appell, jenseits des Religionsunterrichts Menschen als religiöse (oder nicht-religiöse) Menschen ernst zu nehmen und entsprechend über die Bedeutung von Religion in Geschichte und Gegenwart aufzuklären. Darüber hinaus sollte Raum bleiben, um die individuell unterschiedliche Bedeutsamkeit von Religion und religiöser Zugehörigkeit wertschätzen zu lernen.



Literatur

Binder, Ulrich, Das aktuelle Revival von Religion. Zeitschrift für Pädagogik Heft 1/2021, S. 1–4.
Freitag, Christine, Religionssensible Schulkultur aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, in: Guttenberger, Gudrun/Schröter-Wittke, Harald (Hg.), Religionssensible Schulkultur, Jena 2011, S. 285–294.
Freitag, Christine/Tegeler, Evelyn/Bohnhorst, Janina, Wie Lehrkräfte über die Religion ihrer Schüler und Schülerinnen denken, in: Informationes Theologiae Europae, Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie, 17. Jahrgang 2008–2013, S. 199–222.
Freitag, Christine/von Bargen, Imke, Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit im Kontext religionsbezogener Wahrnehmung: Zuschreibungen aus der Sicht von Lehrkräften, in: Breitenbach, Eva/Rieske, Thomas/Toppe, Sabine (Hg.), Migration, Geschlecht und Religion. Praktiken der Differenzierung, Opladen 2018, S. 49–60.
Gogolin, Ingrid, Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule, Münster/New York, 1994.
Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf, Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Opladen 2002.
Karakaşoğlu, Yasemin, Islam als Störfaktor in der Schule. Anmerkungen zum pädagogischen Umgang mit orthodoxen Positionen und Alltagskonflikten, in: Schneiders, Thorsten Gerald (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden ²2010, S. 303–318.
Riegel, Christine, Religion als Differenzmarker. Zu Herstellungsprozessen von Differenz im (sozial-)pädagogischen Sprechen über jugendliche Migrations-​Andere, in: Allenbach, Birgit/Goel, Urmila/Hummrich, Merle/Weissköppel, Cordula (Hg.), Jugend, Migration und Religion. Interdisziplinäre Perspektiven, Zürich 2011, S. 319–342.

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