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REFLEXION
Gerald Hüther
Von der Verwicklung zur Entwicklung
Mehr Wertschätzung im Umgang miteinander wird zunehmend eingefordert. In Erziehungs- und Bildungseinrichtungen soll wertschätzendes Verhalten erlernt und eingeübt werden. Dabei gerät allzu leicht aus dem Blick, dass es eine bestimmte Haltung und innere Einstellung ist, die wertschätzendes Verhalten hervorbringt. Diese Haltung hat einen bemerkenswerten Namen: Sie heißt Liebe.
Von der Verwicklung zur Entwicklung
© Lebenshilfe Kreisvereinigung Neunkirchen e.V./Galerie Farbtupfer

Respektvoll sollen wir miteinander umgehen, achtsam sein und einander mit Wertschätzung begegnen. Nach der vom Neoliberalismus-Boom auf die Spitze getriebenen Ellenbogenmentalität und dem dadurch auf allen Ebenen der Gesellschaft vorangetriebenen Zerfall des sozialen Zusammenhalts wird diese Forderung nun immer lauter. In Elternhäusern, Kindergärten, Schulen und Ausbildungseinrichtungen sollen Kinder und Jugendliche nun wieder stärker als bisher dazu angehalten und dazu gebracht werden, sich respektvoller, achtsamer und wertschätzender gegenüber anderen zu verhalten.

Begründet wird das nicht mehr mit dem Hinweis auf die besondere Achtung, die Vorgesetzten, Respektspersonen und Würdenträgern angesichts ihrer Macht und ihres Einflusses zweckmäßigerweise entgegenzubringen sei, sondern aus der wachsenden Einsicht, dass wir Menschen die Anerkennung anderer brauchen und ohne gegenseitige Wertschätzung kein konstruktives Zusammenleben möglich ist. All denen, die es noch nicht gelernt haben, soll nun wertschätzendes Verhalten im Umgang miteinander durch entsprechende Belehrungen und Ermahnungen, durch Belohnungen und ggf. auch Bestrafungen beigebracht werden.

Verändert hat sich also nur die Begründung, mit der das neue Lernziel verfolgt wird. Kaum verändert haben sich jedoch die Vorstellungen davon, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Nach wie vor geht die Mehrzahl der Erziehungs- und Bildungsverantwortlichen davon aus, dass Heranwachsende durch entsprechende Maßnahmen – auch zu mehr Wertschätzung im Umgang miteinander – erzogen und gebildet werden können.

Veränderte Vorstellungen

Inzwischen haben die jüngeren Erkenntnisse auf dem Gebiet der Neurobiologie und Entwicklungspsychologie aber deutlich gemacht, dass alle Lernprozesse immer vom Lernenden selbst ausgehen, dass also nur der Lernende selbst der Gestalter seines eigenen Lernprozesses sein kann. Dazu aber muss sich dieser oder diese Lernende als Subjekt erleben und als solches agieren können, sie oder er dürfte also nicht zum Objekt pädagogischer Maßnahmen (Belehrung, Bewertung, Belohnung, Bestrafung etc.) gemacht werden. Sonst wäre das Ergebnis nicht selbst angeeignetes Wissen und Können – hier: wertschätzendes Verhalten –, sondern eine durch mehr oder weniger geschickte Dressur- und Abrichtungsmaßnahmen erzeugte Anpassungsleistung.

Die zweite wichtige Erkenntnis aus Neurobiologie und Psychologie lautet: Jede authentische, also nicht durch entsprechende Maßnahmen erzeugte Verhaltensäußerung eines Menschen ist immer Ausdruck einer von dieser Person herausgebildeten inneren Einstellung, also einer Haltung. Diese persönliche Einstellung oder Haltung lenkt als übergeordnetes Muster (Metakonzept) das in einer bestimmten Situation eingesetzte Verhalten.

Angesichts dieser Erkenntnisse stellt sich bei allen Bemühungen um mehr gegenseitige Wertschätzung im Zusammenleben nun eine ganz neue, aber sehr interessante Frage: Wie entsteht und was begünstigt die Herausbildung einer solchen inneren Haltung, aus der heraus ein Kind, ein Jugendlicher oder eine Erwachsene sich wertschätzend gegenüber anderen Personen (und auch gegenüber sich selbst) verhält?

Lernen durch eigene Erfahrungen

Innere Einstellungen und Haltungen sind durch eigene Erfahrungen im Gehirn herausgeformte und stabilisierte neuronale Verschaltungsmuster. Sie lassen sich nicht unterrichten oder einem Kind beibringen, weil es ja immer das Kind selbst ist, das in bestimmten Kontexten bestimmte Erfahrungen macht. Die wichtigsten Erfahrungen, die zur Herausbildung von handlungsleitenden persönlichen Einstellungen und Haltungen führen, sind Erfahrungen in der Beziehung zu anderen, für das jeweilige Kind oder die jeweilige Jugendliche besonders bedeutsamen Personen. Erfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie »unter die Haut« gehen, weil es dabei nicht nur zu einer Aktivierung kognitiver, sondern auch emotionaler Bereiche und Netzwerke im Gehirn kommt. Zwangsläufi g sind auch die aus solchen Erfahrungen entstehenden inneren Einstellungen und Haltungen kognitiv- emotional verkoppelt. Deshalb sind sie weder durch kognitive Strategien (Belehrung) noch durch emotionale Aktivierung (Umarmung) zu verändern, sondern nur durch das Schaff en von Gelegenheiten, die es der betreffenden Person ermöglichen, neue, günstigere Erfahrungen zu machen.

Neuroplastizität nennen die Hirnforscher die Fähigkeit des Gehirns, seine eigene Struktur, also die für bestimmte Leistungen zuständigen neuronalen Verknüpfungen und synaptischen Netzwerke so herauszubilden, umzugestalten und auszubauen, wie sie sich am besten für die Umsetzung all dessen eignen, was einem Menschen in seinem Leben wichtig erscheint. Dass unser Gehirn nicht durch genetische Anlagen programmiert wird, sondern zeitlebens umbaufähig, also lernfähig bleibt, ist eine atemberaubende Erkenntnis. Sie stellt alle deterministischen Konzepte radikal auf den Kopf, die wir bisher für das Misslingen der Bemühungen um Veränderungen und Weiterentwicklungen nicht nur in unseren Bildungseinrichtungen, auch in Politik und Wirtschaft und vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft verantwortlich gemacht haben.

Wir sind alle Suchende

Wirklich bemerkens- und bedenkenswert ist aber nicht diese neue Erkenntnis der lebenslangen Umbau- bzw. Lernfähigkeit des menschlichen Gehirns, sondern der Umstand, wie langsam sie sich ausbreitet, wie zögerlich sie von den meisten Menschen angenommen, ernst genommen und deshalb auch umgesetzt wird. Denn die wichtigste Schlussfolgerung aus der Erkenntnis der lebenslangen Plastizität des menschlichen Hirns lautet doch zwangsläufi g: Es gibt bei uns keine biologischen Anlagen mehr, die uns zu dem machen, was wir sein könnten. Wir müssen selbst herausfi nden, was es heißt, ein Mensch zu sein: Keiner weiß, wie es geht. Wir sind alle Suchende, überall auf der Welt.

Aber schon bei unseren ersten Versuchen, die in uns angelegten Talente und Begabungen während unserer Kindheit zu entfalten, kommt es zu Verwicklungen. Statt spielerisch ausprobieren zu können, was alles geht und was in uns steckt, werden wir zu Objekten der Erwartungen, Absichten, Ziele, Belehrungen, Bewertungen und sonstiger Maßnahmen derjeniger gemacht, die uns auf unserem Weg ins Leben nach ihren jeweiligen Vorstellungen begleiten. So können wir nicht lernen, wie das Leben geht, sondern werden angeleitet, was wir wie zu machen haben. Manche verinnerlichen diesen Anpassungsdruck so sehr, dass sie sich schließlich selbst immer weiter in dieser Weise zu optimieren versuchen. Mit Potenzialentfaltung hat das nichts mehr zu tun. Statt ihre Talente und Begabungen zu entfalten, verwickeln sich diese Personen zunehmend in sich selbst und dann natürlich erst recht in ihre Beziehungsgestaltung mit anderen.

Das menschliche Hirn ist zeitlebens umbaufähig und es ist nie zu spät, sich aus diesen gebahnten Mustern des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns wieder zu lösen und wieder zu einem selbstverantwortlichen und selbstgestaltenden Subjekt zu werden und zu seinem authentischen Selbst zurückzufi nden. Aber das gelingt nur selten allein. Dazu bedarf es der Begegnung mit anderen, mit denen man sich gemeinsam auf den Weg macht. Bisweilen gelingt es in solchen Begegnungen, dass Menschen einander berühren und dadurch selbst im Inneren berührt werden. Dann beginnen sie, sich selbst zu fragen, was für ein Mensch sie sein wollen und wofür sie das ihnen geschenkte Leben eigentlich nutzen wollen. Dann lernen sie (wieder), achtsam und wertschätzend mit sich selbst, mit anderen Personen, vielleicht auch mit der Vielfalt des Lebendigen umzugehen.

Die Haltung, die authentische Wertschätzung hervorbringt

Wahrscheinlich gibt es sehr viele Menschen, die sich beim Versuch, sich in der Welt zurechtzufi nden, in den von ihnen als Kinder oder Heranwachsende vorgefundenen Strukturen verwickelt haben. Manchen ist es auch später nicht mehr gelungen, sich daraus zu befreien. Als Eltern, als Erzieherinnen und Erzieher oder als Lehrkräfte werden sie dann ihre eigenen Verwicklungen an die ihnen anvertrauten Kinder in Form problematischer Beziehungserfahrungen weitergeben. Wenn die Kleinen größer werden, lernen sie immer besser, selbst herauszufi nden, was ihnen guttut und was sie glücklich macht. Manches davon zeigen ihnen die Eltern, aber meist weniger durch Worte, sondern indem sie es ihnen vorleben. Aber nicht alles, was Erwachsene den Kindern beibringen und ihnen vorleben, ist auch wirklich hilfreich für die weitere Entfaltung der in jedem Kind angelegten Talente und Begabungen. Manches ist einfach nur hinderlich, und manches macht Kinder auch unsicher, untergräbt ihr natürliches Empfi nden für das, was sie brauchen und womit sie sich verbunden fühlen.

Das ist das große Problem, das wir Menschen mit unserem so überaus lernfähigen Gehirn alle haben: Wir müssen erst im Lauf unseres Lebens herausfi nden, was gut für uns ist. Und weil wir nicht allein heranwachsen und leben können und daher vor allem als Kinder von den Erwachsenen abhängig sind, kann es sehr leicht geschehen, dass wir von ihnen auch solche Vorstellungen, Überzeugungen und Lebensgewohnheiten übernehmen, die überhaupt nicht gut für uns sind. Ganz zu schweigen von all dem, was wir als Kinder von anderen Heranwachsenden, von Geschwistern, Freunden und Freundinnen alles vorgelebt oder medial über alle möglichen Kanäle eingeredet bekommen. Wer ständig von anderen gezeigt und gesagt bekommt, wo es auf der Suche nach einem glücklichen und erfolgreichen Leben entlanggeht, kann sich eben auch sehr leicht verirren.

Deshalb ist es die wichtigste Aufgabe der erwachsenen Mitglieder einer Gesellschaft, den Heranwachsenden dabei zu helfen, sich aus ihren unverschuldet entstandenen Verwicklungen zu befreien. Im Grunde unseres Herzens wissen ja auch alle, wie das geht. Es steht in Büchern und wird in Filmen gezeigt, manchmal lässt es sich sogar im Zusammenleben von Menschen beobachten: Es ist die Liebe, die uns Menschen hilft, uns aus unseren Verwicklungen zu befreien und uns wieder zu entwickeln. Erwachsene erleben das, wenn sie sich selbst wieder zu lieben beginnen. Und Kinder brauchen einfach nur zu spüren, dass sie bedingungslos geliebt, also so, wie sie sind, als etwas Wertvolles angenommen werden.

Liebe ist deshalb auch kein Gefühl, sondern eine Entwicklung-ermöglichende innere Einstellung und Haltung. Von der Liebe wird niemand überrumpelt und sie fällt auch nicht vom Himmel. Um eine Liebende oder ein Liebender zu werden, bedarf es einer vom Gefühl getragenen, aber auch gleichzeitig bewusst getroff enen Entscheidung. Und wenn es die Liebe ist, die uns hilft, Verwicklungen zu vermeiden und Entwicklung zu ermöglichen, dann kann man nicht lieben, ohne alles dafür zu tun, dass genau das auch wirklich geschieht. Kinder, die auf diese Weise erfahren, was es bedeutet, bedingungslos geliebt zu werden, brauchen dann auch keine Belehrungen und keine Unterweisungen zum Thema Wertschätzung mehr.


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